Gedanken zu Social Media rund um die Anschläge von Paris
Es ist 3 Uhr morgens und ich kann nicht schlafen. Aufgewühlt lese ich meine Timelines und die neuesten News zu den Anschlägen und Paris. Meine Lieblingsstadt. Fassungslos starre ich auf die steigenden Opferzahlen und sehe Paris verzweifelt, in Angst und in Trauer.
Schattenseiten
…und schon sind sie da. Die Hetzer. Die Newsverbreiter. Die Umdeuter. Mit Social Media war es noch nie so einfach, News zu verbreiten. Doch ungeprüft und unbestätigt gelangen News rund um die Welt, die
- nicht der Wahrheit entsprechen oder
- Tage, Wochen oder sogar Monate alt sind.
Dabei ist es manchen Menschen sogar egal, was sie da verbreiten, so lange es in ihr Bild der Attentäter passt. Zumeist ist sofort von muslimischen Attentätern die Rede und eine ganze Religion und ihre Anhänger werden in eine Ecke gestellt. Bisher gibt es über die Täter aber keine Aussagen! Nachrichten werden schwupp-di-wupp umgedeutet, um weiter gegen Flüchtlinge zu hetzen. Doch gerade die sind ja vor solchen Attentätern aus ihrer Heimat geflohen und haben Haus, Hof und Heimat in völliger Unwissenheit um ihre Zukunft hinter sich gelassen (Anm.: rechte Propaganda werde ich nicht noch teilen).
To people blaming refugees for attacks in Paris tonight. Do you not realise these are the people the refugees are trying to run away from..?
— Dan Holloway (@RFCdan) 13. November 2015
Politisch passt es auch einigen ins Bild, wenn frühere Entgleisungen einfach als neu verkauft werden – wie im Fall von Donald Trump. Das der Tweet aus Januar stammt und sich auf Charlie Hebdo bezieht, macht ihn nicht weniger geschmacklos. Dennoch wurde er passenderweise heute wieder hervor gekramt, um den umstrittenen Unternehmer zu diskreditieren (obwohl er das meiner Meinung nach auch ganz von alleine schafft).
Donald Trump said this, though it was in relation to the Charlie Hebdo massacre in January, not tonight. pic.twitter.com/ZeDVZLk71B — Grasswire Fact Check (@grasswirefacts) 14. November 2015
Recherche von Falschmeldungen
Der Account @grasswirefacts auf Twitter war mir heute eine gute Quelle, um diese Falschmeldungen zu identifizieren. Mittlerweile bin ich sehr zurückhaltend geworden, was das Teilen von angeblichen Fakten angeht und Grasswire versucht auch immer Originalmaterial zu finden und aufzuklären. Nur an einem Punkt heute war und ist mir immer noch unklar, ob und was wirklich passiert ist – das Feuer im Refugeecamp in Calais (genannt „Jungle“; Brand im Bereich „Sudan“). Es gingen sehr viele alte Bilder und Videos durch Social Media, da es wirklich am 2.11. und wohl auch vor ca. 3 Monaten im Lager brannte. Lange gab es auch nur eine angebliche Quelle – ein polnischer Journalist, der sich aber nach einiger Recherche als ausgezeichneter Journalist und zu 99 % glaubwürdig herausstellte. Mittlerweile haben wohl auch vereinzelte freiwillige Helfer vor Ort bestätigt, dass es erneut brennt. In welchem Zusammenhang (und ob überhaupt) dies mit Paris steht, ist bisher von keiner offiziellen Seite bestätigt. Dennoch bot auch das wieder Angriffsfläche für rechte Polemik.
Aid workers, Jungle volunteers + journalist claiming to be on scene insist there IS a fire in Sudan area of Jungle. pic.twitter.com/FHd0dDEk1F
— Jack Monroe (@MxJackMonroe) 14. November 2015
Ja, es ist oft schwierig einzuschätzen, was ist wahr und was nicht. Doch oft existierte das Material schon vorher irgendwo in Social Media und wie @grasswirefacts kann man mit etwas Ruhe und einer Recherche herausfinden, ob Dinge wahr oder unwahr sind. Aber Recherche braucht Zeit. Doch mit Social Media ist unser Anspruchsdenken so extrem geworden. Wir müssen quasi in Echtzeit kommunizieren und wenn das Medien wie die ARD „nicht schaffen“, dann gibt es gleich herbe und oft überzogene Kritik daran. Warum die ARD nicht das Spiel sofort abbrach und nicht direkt 2 min. nach den Anschläge live aus Paris darüber berichtete, beschreibt der freiberufliche Nachrichtenredakteur Udo Stiehl sehr gut in seinem Blogpost. [Tweet „Recherche braucht Zeit.“]
Widerlegte Gerüchte
Daher heißt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Dinge in Frage zu stellen. Nicht alles auf Social Media zu glauben. So viel wurde heute durch kurze Recherche schnell widerlegt:
Eiffelturm
To all media claiming Eiffel Tower has gone dark because of #attacks: They shut off the lights every night at 1am. Check the damn website. — Solange U (@dcGisenyi) 14. November 2015
Bild aus dem Konzerthaus Bataclan
This photo is from last night in Dublin, not Paris tonight https://t.co/3OVEqaMNj0 pic.twitter.com/Fu2hNAauhV
— Grasswire Fact Check (@grasswirefacts) 14. November 2015
Demonstrationen in Paris
This photo is from January, not tonight as many are reporting https://t.co/0RcPOtNz7r pic.twitter.com/Hs45AY4Gkc — Grasswire Fact Check (@grasswirefacts) 14. November 2015
Empire State Building
The Empire State building was lit red, white and blue in honor of Veteran’s Day, not Paris attacks. Photos are old https://t.co/weLCJOUrlF
— Grasswire Fact Check (@grasswirefacts) 14. November 2015
Wo Schatten ist, ist auch Licht
Doch es gibt auch die positiven Dinge in Social Media, denn Social Media kann auch soviel Gutes bewirken. Die Anteilname ist groß. Hashtags wie #PrayforParis (Beten für Paris), #NousSommesUnis (Wir sind vereint) oder #JeSuisParis (Ich bin Paris; in Anlehnung an Je Suis Charlie [Hebdo]) sorgen für Tausende Tweets, Instagrams und Facebook-Statusupdates. Facebook hat auch unmittelbar den Safety-Check für Paris und die Region freigeschaltet. Wenn man also Freunde in und um Paris hat, die auch auf Facebook sind, dann können diese mitteilen, dass sie in Sicherheit sind. Ein gutes Tool, wenn denn die Personen Facebook auch regelmäßig nutzen. Des weiteren werden hilfreiche Telefonnummern geteilt.
Die offizielle Notfallnummer zur Suche nach Ihren Angehörigen in #Paris lautet: 0800406005 ^yt https://t.co/BVrx0aZN6V — Polizei Berlin (@polizeiberlin) 14. November 2015
Die Bewohner von Paris etablierten auch in kürzester Zeit den Hashtag #PorteOuverte (offene Tür), damit Menschen schnell Hilfe und sichere Unterkunft in Paris finden konnten.
Leidiges Thema Urheberrecht
Auch etabliert hat sich eine an das Peace-Symbol und den Eiffelturm angelehnte Zeichnung. Leider wird hier oft behauptet, das Logo stamme von Banksy. Immer wieder fallen Menschen auf den angeblichen Banksy auf Twitter rein (obwohl in der Bio „fan account“ steht) und verbreiten dann „sein“ Bild. Dabei ist dieser Twitter-Account ein reinstes Fest an Urheberrechtsverstößen. Munter klaut der Account symbolträchtige und witzige Bilder aus dem Netz zusammen und gibt es bewusst oder unbewusst als seine Kunst aus. So auch bei diesem Bild.
Aber hier endet die Medienkompetenz mancher Social-Media-Nutzer. Den Twitter-Account nicht als Fake zu erkennen, kann ich ja durchaus nachvollziehen. Aber das urheberrechtsgeschützte Bilder nicht einfach munter als Profil-, Titel- oder Kommentarbilder (oder Instagram) benutzt werden dürfen, sollte sich zumindest bei den Social-Media-affineren Menschen durchaus rumgesprochen haben. Meist steht noch nicht mal die Referenz an den Künstler dran. Was ich bisher gesehen habe: ein gefundenes Fressen für Abmahnanwälte (mal ganz abgesehen von den Verstößen, dass man den Eiffelturm bei Nacht mit angeschalteter Lichtinstallation nicht veröffentlichen darf, da die Lichtinstallation urheberrechtlich geschützt ist). Da siegt anscheinend das Mitgefühl über den gesunden Menschenverstand.
Fazit
Es ist ein weiter Weg, bis auch der letzte verstanden hat: don’t trust the Internet! Keep calm and do your research!*
Meine Gedanken sind in Paris. Die Stadt der Liebe. Sie wird jetzt viel davon brauchen.
P.S.: Des weiteren darf auch nicht vergessen werden, dass es ein starkes Erdbeben mit Tsunamiwarnung in Japan gab sowie Anschläge in Bagdad und Beirut, die auch vielen Menschen das Leben kosteten. Auch da geht eine Welle der Anteilnahme durch Social Media, auch wenn Paris in der westlichen Welt im Fokus steht.
*Mir ist bewusst, dass Anschläge ein emotionales Thema sind. Doch mit der Verbreitung von Unwahrheiten und Gerüchten tragen wir nicht nur Aufklärung bei und befeuern eventuell nur noch rechte Propaganda. Auch das Thema Urheberrecht klingt banal und weit weg von all den Tragödien, die gerade um uns herum passieren – doch im Zusammenhang mit Social Media ist mir das doch wichtig. Es ist ein Hinweis. Ein Denkanstoß. Denn Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.
Edit 16.11.:
Auch Annette Schwindt hat dazu einige kluge Zeilen verfasst.
Gilly beschreibt ganz gut auch den daraus resultierenden Social-Media-Terror.
Andre
21.11.2015 @ 19:49
Oh ja, in den sozialen Medien kocht es so gern hoch. Was lobe ich mir hier meine bewusst kuratierte Timeline. Das ist ohnehin der beste Tipp: Unaufgeregten, klaren, sachlichen Leuten folgen.
Das Urheberrechtsthema ist grundsätzlich richtig. Aber in diesem Beitrag könnte schnell der Anschein gewonnen werden, dass man das Symbolbild aus Eifelturm und Peace-Zeichen nicht als Profilbild verwendet oder geteilt werden. Das ist aber grundlegend falsch, da sich der Künstler das Teilen ausdrücklich gewünscht und öffentlich darum gebeten hat. Man darf das Bild sicher nicht als eigenes darstellen oder kommerziell nutzen. Der Rest als Zeichen des Zusammenstehens ist rechtens.
Romy Mlinzk
21.11.2015 @ 21:49
Hallo André.
Danke für Deinen Kommentar! 🙂
Das Urheberrecht ist leider komplizierter. Du schreibst selber, dass sich der britische Künstler das Teilen gewünscht hat. Teilen würde aber im deutschen Recht bedeuten „mit den Mitteln, die bei den Plattformen zur Verfügung stehen.“ Das schließt daher die Nutzung als Profilbild aus. Ein Bild von einer Plattform herunterzuladen und im eigenen Profil oder einer anderen Plattform hochzuladen, schließt die aktuelle Rechtssprechung aus, da Du Dir „das Werk zu eigen machst“ (aber Achtung: ich bin kein Jurist!)
Auch steht halt meist nicht einmal eine Urheberangabe an den Bildern dran. Was mir halt extrem auffiel, dass viele das Bild als ein Banksy-Bild teilten. Danke, dass wir das hier aber noch einmal dezidierter besprechen. 🙂